Als Coda – Child Of Deaf Adults – bin ich in zwei Welten, in zwei Kulturen und mit zwei Sprachen gleichzeitig aufgewachsen: in der Welt der Gehörlosen und in der Welt der Hörenden. Und ich bin stolz darauf, gehörlose Eltern zu haben. Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Danke dafür!
Es ist mir eine Ehre, auch heute noch immer wieder Gast sein zu dürfen in der Welt der Gehörlosen. Mittlerweile wundert es mich nicht mehr, dass ich im Laufe meines Arbeitslebens immer wieder Schnittstellen zur Welt der Gehörlosen habe, sei es damals neben dem Studium als Gebärdensprachdolmetscherin, als Beraterin für von der EU geförderten internationalen Projekten, als Beraterin einer Integrationsfirma, … und nun, in Zeiten von Corona mit mehr Muße zum Nachdenken kam mir folgende Frage in den Sinn:
Gehörlose verhalten sich und kommunizieren – mal abgesehen von der unterschiedlichen Sprache – anders als Hörende. Was können wir von ihnen, ihrer Kultur lernen? Gibt es etwas, was sie „besser“ machen?
Ich sage JA!
#1: Gehörlose stellen Körperkontakt her.
Der Körperkontakt ist für Gehörlose wichtig, um überhaupt ins Gespräch zu kommen.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Andere Menschen im beruflichen Kontext anzufassen ist für einige befremdlich.
- Learning für Hörende: Warum versuchst Du es nicht auch mal mit etwas mehr Nähe? Es gibt ja auch Studien darüber, dass Kellner mehr Trinkgeld bekommen, wenn sie den Gast an der Schulter oder Hand berühren….wir sollten über unsere Einstellung zum Körperkontakt nachdenken…
#2: Gehörlose halten länger und konsequenter den Blickkontakt.
Der Blickkontakt ist Teil der Gebärdensprache und entscheidend für die Aufnahme von Informationen.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Hörende können sich unangenehm angestarrt oder gar provoziert fühlen.
- Learning für Hörende: Die Wichtigkeit der Person und des gesprochenen Wortes erhalten eine höhere Bedeutung. Die Wertschätzung meines Gegenübers wird deutlich zum Ausdruck gebracht. Achtsamkeit für das Hier & Jetzt und die Fähigkeit zum Zuhören werden gesteigert. Empathie durch voll Konzentration und Wahrnehmung mit allen Sinneskanälen.
#3: Gehörlose kommunizieren direkter als Hörende.
In der Gebärdensprache gibt es viele direkte Aussagen, die bewertungsfrei sind. So ist beispielsweise ein „du siehst heute schlecht aus“ oder „du stinkst“ kein Angriff und wird auch nicht persönlich genommen. Wir Hörende nutzen gerne Umschreibungen und Höflichkeitsfloskeln und reden damit „um den heißen Brei“ herum.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Da sind Hörende schon empfindlicher oder! Sie empfinden das schnell als unhöflich.
- Learning für Hörende: Das, was wir wahrnehmen beschäftigt uns sowieso und wenn wir es auch nicht direkt ansprechen, dann merkt der andere doch etwas. Etwas bleibt unausgesprochen spürbar. Was will er/sie mir wirklich sagen? Wie viele Mitarbeitergespräche habe ich schon gehört, in denen die Führungskraft rumdruckst, wenn es um Kritik oder Kündigung geht. Nicht oder durch die Blume angesprochen, überlassen wir es dem Interpretationsspielraum des Gesprächspartners und das Tor für Fehlinterpretationen ist weit geöffnet. Hast Du mal probiert, wie viel Entspannung in die Situation kommt, wenn auch solche vermeintlich kritischen, unangenehmen Dinge schnell und direkt angesprochen werden?
#4: Gehörlose haben eine ausgeprägtere Mimik und Gestik.
Logisch, Mimik & Gestik ist wesentlicher Bestandteil der Gebärdensprache. Zur Gebärdensprache gehören neben dem Mundbild der gesamte Gesichtsbereich, Arme und Oberkörper. Gern wird die Gebärdensprache auch mit südländischen Lautsprachen verglichen, die ähnlich dynamisch unterwegs sind.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Albernes Gezappel; ist übertrieben und nicht seriös genug.
- Learning für Hörende: Gerade wir Deutschen sind oft soooo langweilig in Vorträgen. Ich höre immer wieder „ich möchte an meiner Überzeugungs- und Begeisterungsfähigkeit arbeiten“. Tja, ganz einfach! Voller Körpereinsatz zeigt die eigene Begeisterung und steckt andere an. Als ich als Dolmetscherin einen Vortrag übersetzt habe, hat mir mal ein Zuhörer gesagt: „Ich habe die ganze Zeit Sie angeguckt, das war viel interessanter und lebendiger als die neutrale Haltung des Redners.“ Das fällt extrovertierten Menschen sicher leichter als Introvertierten. Ich beginne einige meiner Vorträge vor hörendem Publikum in Gebärdensprache – zack, volle Aufmerksamkeit garantiert!
#5: Gehörlose gehen adaptiv mit Reaktionen des Gesprächspartners um.
Da Gehörlose viel stärker auf die Mimik und Gestik ihres Gegenübers achten, nehmen sie Reaktionen frühzeitig wahr und sprechen diese durch ihre direkte Art der Kommunikation häufig direkt an.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Wenn ich auf Reaktionen eingehe, weiß ich ja nicht, was dann kommt und ob ich damit umgehen kann. Also lieber Augen zu und durch….
- Learning für Hörende: Wir haben die einmalige Chance, den jeweiligen Moment maximal zu nutzen. Wenn wir sofort auf Fragen, Ungeklärtes, Kritik, Fehlinterpretationen, Verständnisprobleme eingehen, können wir das Bild der kritisch eingestellten Gesprächspartner noch beeinflussen. Danach wird es viel schwieriger, die Meinung des anderen über mich/mein Thema zu verändern. Die Chance ist JETZT. Das bedeutet auch, Mut zu haben und die vermeintliche Kontrolle über die Situation (z.B. den Vortrag) abzugeben, indem man dem anderen Raum gibt. Vermeiden bedeutet allerdings aufgeben!
#6: Gehörlose beginnen Vorträge oder Argumentationen mit Beispielen.
Zu Beginn ein Beispiel, bevor es zum eigentlichen Thema, zum Allgemeinen geht.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Ich fühl mich nicht gut abgeholt, worum geht es eigentlich, ich bin irritiert.
- Learning für Hörende: Warum die Zuhörer nicht mal mit einem speziellen Beispiel zu Beginn neugierig machen? Nutzen des Primacy-Effektes, d. h. Dinge die am Anfang (Primacy-Effekt) und am Ende (Recency-Effekt) eines Vortrages gesagt werden, merken sich Zuhörer am besten.
#7: Gehörlose verbreiten Informationen schneller und umfangreicher weiter.
Gehörlose streuen Informationen schneller und mehr in der Breite. Man vermutet, dass es daran liegt, dass sie weniger Informationskanäle zur Verfügung haben und daher auf diese Verbreitungsform angewiesen sind.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Hörende scheinen sich im Vergleich eher zurückzunehmen und Informationen länger für sich zu behalten. Gerade bei Veränderungen behalten Führungskräfte Dinge oft länger für sich, bis es „spruchreif“ ist. Der Flurfunk ist dann aber schon lange aktiv.
- Learning für Hörende: Führungskräfte erhalten in Mitarbeiterbefragungen immer wieder die Rückmeldung „mein Chef informiert mich zu wenig“. Veränderungen sind nie fertig und spruchreif! Je früher die Einbindung, auch wenn man sagen muss „das weiß ich noch nicht“ hilft den Mitarbeitern sich auch zeitnah mit der Veränderung auseinanderzusetzen. Phasen der Orientierungslosigkeit gehören nun einmal dazu.
#8: Gehörlose setzen Dolmetscher als Brückenbauer ein.
Für Gehörlose ist es in Ordnung, einen Dolmetscher hinzuzuziehen, der bei der Kommunikation mit Menschen, die eine andere Sprache sprechen, unterstützt.
- Wie Hörende das kritisch auffassen könnten: Ich kriege das alleine nicht hin? Die Blöße gebe ich mir nicht!
- Learning für Hörende: Hast Du Beispiele vor Augen, bei denen Sie sagen: „An den komme ich nicht ran. Wir verstehen uns nicht.“ Wenn Dein Gesprächspartner so ganz anders „tickt“ und ihr ständig aneinander vorbeireden, kann eine gut ausgewählte 3. Person, die beide Seiten „versteht“, hilfreich sein.
Und, was probierst Du aus?
„Das wichtigste an Kommunikation ist, zu erfassen, was nicht gesagt wird.“ Peter Drucker, Ökonom
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